Was wenn Boomer in Rente gehen? Wie ITIL 4 mit dem SECI-Modell hilft
von Norbert Witzel
Vor einigen Jahren standen wir in einem Unternehmen mit einer Vielzahl von Bestandsimmobilien vor einer besonderen Herausforderung: Unser langjähriger Facility-Manager, der über Jahrzehnte hinweg für zahlreiche Gebäude verantwortlich war, würde in einem Jahr in den Ruhestand gehen. Sein Wissen über die vielen Details der Immobilien war unschätzbar – und nicht einfach in einer Datenbank gespeichert. Der Hausmeister hatte „Kopfmonopol“. Wie konnten wir seine Erfahrung „konservieren“, um ihn nicht ständig im Ruhestand anrufen zu müssen? Es ging darum, ihn als Wissensträger aktiv in den Übergangsprozess einzubinden – so, dass er sich nicht übergangen fühlt.
Wir entwickelten eine Lösung, die sich Jahre später im SECI-Modell von Nonaka und Takeuchi sowie in der ITIL 4 Knowledge Management Practice wiederfand. Dieses Modell bietet eine strukturierte Methode, um Wissen effektiv weiterzugeben und zu bewahren. Interessanterweise wird das SECI-Modell explizit nur in unseren mITSM ITIL 4 CDS-Schulungsunterlagen behandelt. Doch wie funktioniert es genau? Und wie kann es Unternehmen helfen, wenn wertvolle Experten das Unternehmen verlassen?
Das SECI-Modell – Wissen sichern und weitergeben
Das SECI-Modell beschreibt, wie Wissen innerhalb einer Organisation transformiert wird. Es unterscheidet zwischen explizitem Wissen (z. B. Dokumente, Anleitungen) und implizitem Wissen (Erfahrungen, Intuition, Fähigkeiten) und zeigt, wie dieses Wissen in vier Phasen weitergegeben werden kann:
1. Sozialisation – Vom Erfahren zum Erfahren
Wissen wird durch gemeinsames Erleben weitergegeben.
Hier geht es um den direkten Austausch zwischen Personen. Implizites Wissen kann oft nicht direkt verschriftlicht werden, sondern wird durch gemeinsame Arbeit, Beobachtung und Gespräche weitergegeben.
👉 Beispiel: Schon in der Steinzeit wurden Jagdtechniken durch gemeinsames Erleben weitergegeben. Ein erfahrener Jäger nahm einen jungen Schüler mit und zeigte ihm, worauf es ankommt – genau wie heute erfahrene Mitarbeiter ihr Wissen an Junioren weitergeben.
👉 Kinder lernen durch Beobachten: Ein Kind schaut seinen Eltern beim Kochen zu, bevor es selbst beginnt, Zutaten zu schneiden. Durch Mitmachen und Nachahmen wird Wissen verinnerlicht.
👉 Modernes Beispiel: Ein erfahrener IT-Administrator nimmt einen Junior-Admin mit auf Fehleranalyse-Runden. Durch diese Beobachtung lernt der Neue, typische Muster in Logfiles zu erkennen – etwas, das schwer in einem Handbuch zu dokumentieren ist.
2. Externalisierung – Vom Erfahren zum Dokumentierten
Implizites Wissen wird in explizite Form überführt.
Hier passiert die eigentliche „Wissensrettung“. Erfahrungswerte und Best Practices werden aus den Köpfen der Experten geholt und systematisch dokumentiert.
👉 Beispiel: Der scheidende Hausmeister Ein Hausmeister geht nach 40 Jahren in Rente. Er kennt jede Macke der Gebäude:
- Wo im Winter als erstes die Rohre zufrieren,
- Welcher Boiler immer wieder Probleme macht,
- Wie man den Aufzug repariert, ohne einen Techniker zu rufen.
Kein Gebäudeplan und keine Datenbank der Welt hat dieses Wissen. Also wird mit ihm zusammen ein Handbuch erstellt – vielleicht durch Interviews oder Videos, in denen er sein Wissen an die nächste Generation weitergibt. Hier steckt ITIL 4 mit dem Knowledge Management drin: Wissen wird strukturiert gesichert, bevor es verloren geht.
👉 Was nicht mal ChatGPT wissen kann: Manche Rohre frieren im Winter nicht wegen der Temperatur, sondern weil ein bestimmtes Lüftungsgitter in einem Innenhof immer offen bleibt – eine Kleinigkeit, die nur durch jahrelange Erfahrung erlernt wurde. Solche Details sind Gold wert!
3. Kombination – Vom Dokumentierten zum Dokumentierten
Explizites Wissen wird kombiniert und vernetzt.
Nachdem Wissen dokumentiert wurde, wird es systematisch aufbereitet, ergänzt und in bestehenden Systemen verankert.
👉 Beispiel: Die Wartungstipps des Hausmeisters werden in eine digitale Wissensdatenbank überführt, mit Herstelleranleitungen verknüpft und als Best Practices für andere Immobilienstandorte verfügbar gemacht.
4. Internalisierung – Vom Dokumentierten zum Erfahren
Das neue Wissen wird wieder zu implizitem Wissen, indem es angewendet wird.
Die neue Generation von Mitarbeitern setzt das gesicherte Wissen in der Praxis ein – und entwickelt es weiter.
👉 Beispiel: Ein neuer Hausmeister nutzt das Handbuch, merkt aber nach einiger Zeit: Ein neuer Heizkessel verhält sich anders als beschrieben. Er ergänzt die Dokumentation mit seinen eigenen Erfahrungen – das Wissen bleibt lebendig und wächst weiter.
Die Entwicklung der Wissensspeicherung:
Von der Steinzeit bis zur KI
Die Methoden zur Wissensbewahrung haben sich stetig weiterentwickelt:
- Mündliche Überlieferung (Steinzeit bis Antike) – Wissen wurde durch Geschichtenerzählen und Lernen durch Beobachtung weitergegeben.
- Schrift (Buchdruck ab 1450) – Das Wissen konnte erstmals systematisch dokumentiert und weitergegeben werden.
- Fotografie und Tonaufnahmen (19. Jahrhundert) – Wichtige Erkenntnisse konnten bildlich und akustisch festgehalten werden.
- Film und digitale Datenbanken (20. Jahrhundert) – Wissen wurde umfassender archiviert und für viele zugänglich gemacht.
- Künstliche Intelligenz (Heute) – Maschinen helfen dabei, Wissen effizient zu strukturieren und weiterzugeben.
ITIL 4: Wie Unternehmen das SECI-Modell praktisch nutzen
ITIL 4 bietet mit der Knowledge Management Practice die passenden Methoden, um Wissen zu erfassen, zu dokumentieren und weiterzugeben:
- Lessons Learned Sessions helfen bei der Sozialisation,
- Wissensdatenbanken unterstützen die Externalisierung,
- KI-gestützte Knowledge Management Systeme fördern die Kombination,
- Onboarding-Programme und Trainings erleichtern die Internalisierung.
Fazit: Wissen darf nicht in Rente gehen!
Die Herausforderung, das Wissen der scheidenden Generation zu bewahren, ist real. ITIL 4 zeigt, dass es systematische Wege gibt, dieses Wissen zu sichern und weiterzugeben. Das SECI-Modell hilft dabei, den richtigen Prozess zu finden, um Erfahrung nicht nur zu retten, sondern aktiv für die nächste Generation nutzbar zu machen. Denn am Ende gilt: Wissen, das nicht geteilt wird, ist irgendwann einfach weg – und das kann sich kein Unternehmen leisten.
Über den Autor: Norbert Witzel
Norbert ist Experte für ITIL. Er hat mehr als 20 Jahre Erfahrung auf C-Level in unterschiedlichen Branchen. Er war bereits als CFO, Leiter Zentrale Dienste, Geschäftsführer und als Aufsichtsrat tätig. Ebenso bringt er Erfahrungen aus Großprojekten mit, hat individuelle Kundenprojekte und M&A Projekte geleitet.
Seit vielen Jahren gibt er sein Knowhow und seine Erfahrungen auch als Berater, Trainer und Lehrbeauftragter an Hochschulen weiter. Dabei kann er die Sichtweisen als Wirtschaftsingenieur, Organisationspsychologe und BDVT-Zertifizierter Trainer kombinieren.
13.03.2025